New Me: Das Netz wird empathisch
Die Corona-Krise hat den Blick auf uns selbst verändert. In der Isolation hatten wir mehr Zeit, uns mit dem eigenen Ich zu beschäftigen, als uns lieb war. Menschliche Begegnungen – bisher eine wichtige Zutat für unsere seelische Balance – stellten plötzlich eine Gefahr für unsere Gesundheit dar. Doch sie komplett aufzugeben, widerspricht unserem Wesen: Wir wollen als Person wahrgenommen und bestätigt werden. Als vorübergehende Lösung ist das Social Distancing akzeptiert, aber unser Gehirn sehnt sich nach Anerkennung. Jeder sechste Deutsche fühlte sich während der Corona-Krise einsam[i]. Selbstvertrauen und Zuversicht zu bewahren, wurde zur kollektiven Herausforderung.
Doch inzwischen zeigt sich: Die Menschen holen sich den sehnlich vermissten Zuspruch zurück in ihr Leben – anders. Quarantäne macht erfinderisch. Soziale Nähe muss nicht abgeschrieben werden, ganz im Gegenteil. Sie lässt sich neu organisieren. Doch sie verlangt bewusste Aktivität. Kommunikation passiert nicht mehr selbstverständlich, weil wir uns nicht mehr einfach so über den Weg laufen. Das führt sogar dazu, dass eine alte Kulturtechnik wiederauflebt: das Festnetz-Telefonat. Vodafone-Daten belegen einen Anstieg der Gespräche für die Zeit der Corona-Krise[ii]. Einen wahren Boom erlebt das Videostreaming: nicht nur mit Kollegen, sondern auch mit Freunden, Familie und Mitschülern. Sich selbst im Bild zu zeigen, löst das Problem der fehlenden Anerkennung und der emotionalen Rückkopplung – zumindest teilweise.
Das Ego geht auf Sendung
Soziale Netzwerke bieten damit längst nicht mehr die einzige Bühne, um die eigene Persönlichkeit zu veröffentlichen. Es schlägt die Stunde der Streamingdienste wie Zoom, Houseparty oder Microsoft Teams. Allein Zoom konnte zwischen Dezember 2019 und März 2020 seine Nutzerzahlen von 50 Millionen auf 200 Millionen steigern[iii]. Ungeklärte Fragen zur Sicherheit des Programms schienen nur wenige abzuschrecken. Die Videochat-App Houseparty feierte weitere Erfolge mit dem Phänomen des Live Chilling. Die Visits stiegen von 80.000 im Februar auf rund 16 Millionen im März 2020[iv]. Schon vor der Krise nutzte der durchschnittliche User in den USA die App 55 Minuten am Tag[v].
Eines ist im Lockdown also gleichgeblieben: Bilder machen Leute. Wir sind im Video-Chat nicht nur für andere permanent sichtbar, wir spiegeln uns auch selbst im Webcam-Bild. „Ich style mich, um bei Videokonferenzen besser auszusehen“ sagen 61 Prozent aus der Generation Z laut der aktuellen QVC-Umfrage. Jeder zweite Vertreter der Gen Z stylt dafür sogar seinen Hintergrund. Auch nach der Krise werden wir diesen Ausschnitt unseres Privatlebens mit steigendem Aufwand gestalten. Das Selbstwertgefühl im „New Normal“ speist sich künftig viel stärker aus dem Feedback der Teilnehmer von Videokonferenz-Diensten.
Schönheit wird herangezoomt
Auch der eigene Look wird in der Corona-Krise von der Kameraeinstellung bestimmt. Dass sich Blusen und Hemden besser verkauften als Hosen oder Röcke, fiel dem US-Konzern Walmart auf[vi]. Die Käufer konzentrierten sich auf den Teil des Körpers, der über dem Schreibtisch sichtbar war. Kosmetik-Produzenten stellen sich ebenfalls darauf ein: Gefragt ist alles, was für feine Poren im nah herangezoomten Gesicht sorgt und Feuchtigkeit spendet. Der Eyeliner als neues Must-have gewinnt: Augen-Make-up, das auch über einem Mundschutz sichtbar ist, läuft dem Lippenstift den Rang ab[vii]. Handpflege und langlebiges Nageldesign werden wichtiger in Zeiten des exzessiven Händewaschens. Und für personalisierte Kosmetik muss künftig niemand mehr vor die Tür. L’Oréal präsentierte jüngst mit Perso ein Gerät, das auf Basis künstlicher Intelligenz (KI) personalisierte Cremes und Lotionen produzieren kann, quasi auf Knopfdruck für zu Hause[viii]. Der Skin Guide von Nivea wiederum verspricht, die Haut ohne Kosmetikerin per Smartphone-Scan zu analysieren. KI-gestützt gibt es dazu Pflegetipps. Ein System mit Zukunft: Laut der QVC-Umfrage wünschen sich 45 Prozent der Deutschen Beauty-Tech, die individuell berät und Produkte anbietet.
Kontaktlose Liebe: Dating im Video-Chat
Das Gesicht wird für die Bühne des Video-Streaming in Szene gesetzt. Und das nicht nur zu beruflichen Anlässen. Dating-Apps zogen Singles trotz der Kontaktbeschränkungen magisch an. Die tägliche Konversation der User wuchs um bis zu 30 Prozent[ix]. Am 29. März 2020 registrierte Tinder drei Milliarden Swipes, so viel wie noch nie in der Geschichte der App. An diesem Tag wurde die Funktion Passport bezahlfrei gestellt, mit der man unabhängig vom Aufenthaltsort weltweit flirten kann[x]. Anbieter wie Match.com oder Parship starteten neue Videochat-Features für virtuelle Dates.
Socializing trifft Gaming
Distanz muss nicht weniger Nähe bedeuten. In Nintendos Videospielreihe Animal Crossing gab es die Möglichkeit, virtuell mit Trauzeugen zu heiraten. Weltweit bauten Schüler im Open-World-Spiel Minecraft ihre Schulen nach, trafen sich dort mit Mitschülern und Lehrern und feierten sogar Abschlussfeiern[xi]. Gaming und Socializing gehen neue Verbindungen ein, bei der physische und virtuelle Identität verschmelzen.
Auch die digitale Happy Hour als abendlicher Video-Treff mit Freunden und Getränken hat das Zeug zum Klassiker. Jeder Zweite aus der Generation Z und Y findet sie laut der aktuellen QVC-Umfrage gut, um neue Leute zu treffen. Live Chilling verleiht dem bisherigen „zusammen Abhängen“ eine neue Qualität.
Quellen:
[iii] https://www.pcwelt.de/news/Google-verbietet-Mitarbeitern-Nutzung-der-Zoom-App-10790560.html
[v] https://www.businessofapps.com/data/houseparty-statistics/
[vii] https://www.businessinsider.com/how-people-use-makeup-with-face-masks-during-the-coronavirus-2020-4?r=DE&IR=T
[viii] https://www.loreal.com/media/news/2020/january/perso-ces-innovation
[ix] https://www.fastcompany.com/video/dating-in-the-age-of-quarantine-and-a-look-at-staycations/coF09qop
[x] https://www.fastcompany.com/90492617/how-covid-19-killed-hookup-culture-and-saved-romance